Freerk Huisken, Universität Bremen

Die Freiheit der Wissenschaft: Ein Instrument zur Funktionalisierung der Wissenschaft für Staats- und Geldmacht

Es ist längst üblich, dass sich kapitalistische Unternehmen im Hochschulbereich einkaufen. Sie mieten Reklamewände, sponsern Lehrstühle, finanzieren Drittmittel, gründen Institute oder ganze Universitäten, die dann nicht nur ihren Namen tragen, sondern auch ihrer Sache dienen, und überschwemmen die Universitäten mit Werbeveranstaltungen, über die sie HQA´s aus den Naturwissenschaften, aber auch aus der BWL oder Jurisprudenz abwerben. Natürlich ist das ein Skandal: Denn Wissenschaft wird auf diese Weise Zwecken unterstellt, die alle ausschließlich um Gewinn- und/oder Machtzuwachs kreisen - so fortschrittlich, weltoffen, menschenrechts- und naturverpflichtet sie sich auch darstellen mögen.

Wer nun in diesem Skandal vornehmlich einen Missbrauch der Freiheit von Wissenschaft erblickt, liegt falsch. Denn der hält die im Universitätsbetrieb eingeräumte Freiheit glatt für einen Dienst des Staates an der Wissenschaft und ihren Repräsentanten, für eine Bedienung der Anliegen von Forschern und Studierenden, vielleicht gar für ein Instrument, über das der Staat die Gesellschaft "menschenfreundlicher" gestalten möchte. Die vom bürgerlichen Staat gewährte Freiheit der Wissenschaft ist jedoch etwas anderes. Sie ist nichts als die wissenschaftsadäquate Form der Funktionalisierung der Forschung für Geld- und Staatsmacht. Und die jüngste Entwicklung ist ihre logische Vollendung. Dazu acht Thesen und ein Fazit:

1.Die Hochschulen sind immer noch in erster Linie Einrichtungen des Staates. Er steht für sie ein, bezahlt die anfallenden Sach- und Personalkosten. Die Hochschullehrer können auf diese Weise - und das sollen sie gerade - Wissen produzieren und vermitteln, ohne sich ständig jene Geldsorgen machen zu müssen, mit denen sich die Mehrheit der Bevölkerung herumschlägt. Das ist ihr Privileg. Die Wissenschaftler setzt der demokratische Staat aber nicht nur von den Nöten der Erwerbsarbeit frei, sondern auch von staatlichen Weisungen beim Nachdenken. Er schreibt weder den Inhalt, noch die Dauer oder gar das Ergebnis der Forschung vor, sondern überlässt alles den Professoralhirnen, erklärt allein sie dafür zuständig; wohl wissend, dass es diese Arbeitsbedingungen, die die im Kapitalismus gültigen Maßstäbe für (Lohn-)Arbeit auf den Kopf stellen, für wissenschaftliche Tätigkeit braucht. Wissenschaftler sollen - zunächst einmal - ihre Forschung voran bringen und so das Wissen ganz allgemein und d.h. ganz ohne jeden bestimmten staatlich erwünschten Anwendungszusammenhang entwickeln.

2. Wissen mehren, lautet also der erste, sehr abstrakte Staatsauftrag, der in der Freiheit der Forschung eingeschlossen ist. Er verweist darauf, dass der "moderne Staat" Wissen als Mittel seiner Macht in großem Stil braucht. Im Wissen und in seiner Umsetzung in Instrumente der Wachstumsförderung, Infrastruktur, medizinischen Gesundheitspflege, militärischen Gesundheitszerstörung usw. entdeckt er in der Tat eine zentrale Quelle für Erfolge in der ökonomischen und in der Staatenkonkurrenz. Die um die Wissenschaft errichtete "Mauer" - auch "Elfenbeinturm" genannt - mit interner Freiheitsgarantie, also mit der Befreiung der Wissenschaftler von inhaltlichen Vorschriften, Zeitdruck und Finanzsorgen, ist dafür das adäquate Mittel.

3. Diese staatlich eingerichtete Wissenschaftsfreiheit hat aber eine zweite Seite: Denn sie bedeutet umgekehrt, dass außerhalb dieser Sphäre des Geistes, also in Politik und Ökonomie, das systematisch produzierte Wissen die Zwecke der Menschen gerade nicht bestimmt. Den Wissenschaften wird mit ihrer Festlegung auf theoretische Reflexion zugleich die wissenschaftliche Bestimmung gesellschaftlicher Praxis entzogen. Ökonomie und Familie, Justiz und Kultur, Schule und Fernsehen, kurz, alle innen- und außenpolitischen Verhältnisse, werden nicht nach begründeten Einsichten, d.h. nach Abklärung aller Argumente, sondern getrennt von der Wissenschaft nach Interessen regiert. Sie müssen sich keiner wissenschaftlichen Prüfung unterwerfen. Das haben sie nicht nötig. Sie sind nämlich mit Macht ausgestattet. So melden denn beide gesellschaftlichen Bereiche, Staats- und Geldmacht, steigenden Bedarf an wissenschaftlicher Erkenntnis an, die allein als Mittel für ihre, getrennt von wissenschaftlicher Erkenntnis feststehenden Ziele gedacht ist.

4. Die systematische Produktion von Wissen und die gesellschaftliche Praxis, in der Erkenntnisse zur Anwendung kommen, existieren also im Kapitalismus getrennt. Doch diese Trennung ist nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Denn was für die methodische Produktion gilt, gilt für die Resultate des Wissenschaftsprozesses gerade nicht. Diese bilden einen allgemein zugänglichen immateriellen Fundus an Wissen, aus dem sich aber nur Staat und kapitalistische Ökonomie nach ihren Interessen bedienen können. Zugreifen kann auf ihn jedermann. Um sich Wissen anzueignen, muss er nur in die Bibliothek oder ins Internet gehen. Zur gesellschaftlichen Anwendung der geistigen Produkte gehört jedoch mehr. Dazu gehören Kapital und eine Macht, die dafür sorgt, dass Wissenschaft nur hierzulande genehmen Zwecken dient. Dem gemäß wird der Wissensfundus gesichtet, wird ihm entnommen, was Nutzen verspricht, und der Rest dort belassen. Vielleicht erfüllt er später einmal einen Anwendungsbedarf. Auf diese Weise wenden die herrschenden Mächte Wissenschaft an, ohne dass ihnen Wissenschaft ihre Zwecke vorschreibt. Also gerade dadurch, dass die Wissenschaft von jeder besonderen, staatlich bestimmten Zwecksetzung frei ist, erfüllt sie im Kapitalismus ihre Aufgabe als allgemeines geistiges Dienstleistungsunternehmen: So produziert sie Erkenntnisse, die dann für Zwecke und Anliegen zur Verfügung stehen, die selbst der wissenschaftlichen Reflexion entzogen sind. Und so ist gerade mit der staatlichen Einrichtung der Freiheit der Wissenschaft ihre - notwendig - affirmative Funktion institutionalisiert.

5. Innerhalb der Wissenschaft(-sethik) gilt die Enthaltsamkeit in Sachen Einmischung geradezu als Tugendbeweis und besitzt den Charakter einer innerwissenschaftlichen Vorschrift: Wertfrei muss Wissenschaft sein, wenn sie anerkannt sein will, lautet dieser Imperativ. Und gemeint ist mit dem Wertfreiheitspostulat nichts anderes als das Verbot, aus der Funktionalisierung per staatlichem Geistesghetto auszubrechen und aus wissenschaftlicher Erkenntnis heraus gesellschaftliche Zusammenhänge bestimmen zu wollen. Die gehen den Wissenschaftler nichts an; und folglich gilt es geradezu als Missbrauch der Freiheit der Forschung, wenn Forscher zur Einmischung aufrufen - besonders natürlich, wenn sie auf unerwünschten Ratschlägen auch noch insistieren. Frei von jeder Einmischung ins pralle gesellschaftliche Leben hat die Forschung zu sein, eben wertfrei, lautet die Dienstanweisung, die mit der staatlichen gewährten Forschungsfreiheit formuliert ist.

6. Wissenschaft, die für jedes staatlich anerkannte Interesse dienstbar sein soll, ist deshalb auch - im Bereich der Geisteswissenschaften - pluralistisch verfasst. Denn jedes dieser Gedankengebäude bezieht seine Geltung nicht aus seiner Stimmigkeit, sondern aus seiner Freiheit, sprich: aus seiner potentiellen Brauchbarkeit für praktische oder ideologische Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft. Pluralismus ist folglich kein Wert im Geistesleben, sondern ein funktionelles Erfordernis seiner Knechtsstellung .

7. Wer nun anprangert, dass sich heute zunehmend bereits innerhalb des Wissenschaftsbetriebes ein außerwissenschaftliches Interesse an der Wissenschaft breit macht, liegt richtig in der Feststellung der kapitalistischen Instrumentalisierung des Geisteslebens. Falsch liegt er jedoch, wenn er dies für einen neuen Trend hält, der sich ihm am heutigen Stand von Auftragsforschung erschließt und gegen den er die Freiheit der Wissenschaft verteidigen möchte. Er liegt deswegen daneben, weil es - wie gezeigt - bei der staatlichen Einrichtung dieser gesonderten Sphäre namens Universität um nichts anderes als um eine solche Instrumentalisierung der Resultate der Wissenschaft für Geld- und Staatsmacht geht. Geändert hat sich natürlich etwas: Der Zugriff staatlicher und ökonomischer Einrichtungen aufs Wissens beginnt inzwischen bereits in der Phase ihrer staatlich organisierten Produktion und nicht erst dann, wenn es gilt, deren Resultate auf Brauchbarkeit hin zu filtrieren. Was sich nicht geändert hat, das ist das Prinzip der nur einseitigen Durchlässigkeit jener Trennungsmauer zwischen gesellschaftlichen Zwecken und staatlicher Wissensproduktion: Staat und Wirtschaft bemächtigen sich der Resultate systematischer Wissensproduktion, ihr Zugriff erfolgt sogar in zunehmendem Maße bereits an der Stätte geistiger Produktion selbst. Gerade dadurch bleibt die "Mauer" in umgekehrter Richtung weiterhin unpassierbar. Denn die Dienstverpflichtung der Wissenschaftler auf Interessen, die den demokratischen Kapitalismus regieren, ist auf diese Weise bereits im Forschungsanliegen selbst verankert. Die staatlich institutionalisierte Kehrseite der Wissenschaftsfreiheit, die "Freisetzung" der Wissenschaft von jeder Einmischung in herrschende Interessen, wird dadurch richtig offenbar. Folglich hat derjenige, der sich allein an dieser neuen Form des unmittelbaren Zugriffs kapitalistischer Unternehmungen in Gestalt der Auftragsforschung stört, den Witz an Form und Zweck kapitalistischer Wissensproduktion verpasst. Der muss sich die Frage gefallen lassen, ob für ihn das Verhältnis von Wissenschaft und (kapitalistischer) Gesellschaft in Ordnung wäre, wenn die Anwender in der Alma mater nicht so aufdringlich in Erscheinung träten; wenn man also am schönen Schein eines gänzlich freien, eigenen und natürlich ziemlich "emanzipatorischen" Zwecken verpflichteten Geisteslebens festhalten könnte!

8. Dass die potentiellen Anwender - Firmen, ganze Branchen, aber auch staatliche Einrichtungen - in zunehmendem Maße ihr Interesse an verwertbarem Wissen dort sehr konkret und finanzkräftig geltend machen, wo es produziert wird, kommt der Sparpolitik von Kultusbehörden zwar entgegen und stellt einen Anreiz für immer kostspieligere Forschung dar, begründet sich aber nicht allein aus dieser. Die Übung, die Wissenschaft gleich über den unmittelbaren Zugriff auf ihre Quellen in den Dienst konkreter politischer und ökonomischer Zwecke zu stellen, erklärt sich zum einen daraus, dass sich das Verhältnis von Grundlagenforschung zu unmittelbar verwendbarer, technologischer Forschung zu Gunsten letzterer verschoben hat. Es gibt im Bereich der Naturwissenschaften immer mehr gesichertes Wissen und folglich konzentriert sich Forschung bereits schon von sich aus weniger auf die "weißen Flecken" auf der Erkenntnislandkarte, sondern eher auf Anwendungsfragen. Zum zweiten verhält es sich so, dass ökonomische Konkurrenz zwischen Kapitalen und die politische zwischen Staaten an Wucht und Brisanz zugenommen hat, folglich in vermehrtem Maße technologisches Wissen als Konkurrenzmittel notwendig wird. Zu besichtigen ist all dies auf dem Weltmarkt und auf anderen Schlachtfeldern.

Fazit: Die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen, ist Sache des Staates. Er hat sie immerhin als sein Instrument eingeführt. Er tut dies auch und legt mit seinem Verteidigungswerk klar, dass ihn nur die Kritiker des kapitalistischen Wissenschaftsbetriebs stören, nicht aber ihre Nutznießer. Es gibt also keinen guten Grund, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Denn das Bemühen um richtige Erkenntnis von Gesellschaft, ihre praktische Umsetzung und um vernünftige Anwendung von Naturwissenschaft hat im staatlichen Wissenschaftswesen keinen Platz. Wer sich an den Ideologien der Gesellschaftswissenschaft stört, wer ihren Pluralismus für eine geistige Zumutung hält und etwas dagegen hat, dass mittels richtiger Naturerkenntnis heute Zerstörungswerke aller Art voran gebracht werden, kommt jedoch um die Kritik der staatlich eingerichteten Freiheit der Wissenschaft nicht herum.

 

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