Freerk Huisken (1), Uni Bremen, 06.03

Thesen zur Tagung der Petra-Kelly-Stiftung über Gewaltprävention:

Warum "Jugendgewalt" eine Ideologie ist und vernünftige "Gewaltprävention" nicht geht.

1. Über die Gleichgültigkeit gegenüber den Ursachen von und den Zwecken der Gewalt

a. "Gewaltbereitschaft" - eine Fiktion

Wer Gewalt unterbinden will, die von Kindern und Jugendlichen ausgeht, wer sich der Gewaltprävention, Gewaltintervention oder Gewalt-"postvention" verschrieben hat, der wird mit der Frage konfrontiert, woher "die Gewaltbereitschaft" von Kindern und Jugendlichen rührt. Und wer dieser Frage nachgeht, der wird mit einer Fülle von disparaten Erklärungen konfrontiert, die sich z.T. gar widersprechen: da ist vom Aggressionstrieb die Rede, von einem sozialdarwinistischen Verhaltensmuster oder von einer Frustrationsverschiebung; da wird die Gewaltbereitschaft auf Imitation zurückgeführt, auf widrige soziale Umstände oder auf Manipulation. So sehr sich diese Erklärungen auch wechselseitig durchkreuzen oder ausschließen, ihnen ist eines gemeinsam: Immer werden die gewalttätig gewordenen Kinder und Jugendlichen als Produkt innerer oder äußerer Verhältnisse vorgestellt; immer wird behauptet, sie würden getrieben, seien determiniert oder durch diese Verhältnisse auf Verhaltensmuster festgelegt - so als würde sie irgendetwas zu Gewalttaten drängen, als würde sich inhalts- und grundloses Gewaltbedürfnis bei ihnen Bahn brechen und sich "unschuldige" Opfer suchen. (2)

Diese Konstruktion behauptet einen Sachverhalt, den es nicht gibt. Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kinder und Jugendlichen ist Gewalt nie für sich der Zweck, sondern immer ein Mittel, das sie mit ihren Gründen einsetzen und das sie zur Durchsetzung bestimmter - zwangsläufig roher - Anliegen benutzen. Wenn Erwachsene Kinder mit Schlägen bestrafen, wenn sie eine Bank überfallen, wenn Männer Frauen Gewalt antun, wenn Polizisten Demonstranten mit Schlagstöcken auseinandertreiben und Ausländer abschieben, oder wenn Soldaten zum Töten in den Krieg geschickt werden - immer gilt es als selbstverständlich, dass Gewalt für gebilligte oder nicht gebilligte Zwecke eingesetzt wird. Und immer ist der Zusammenhang von Ursache, Zweck und Mittel eindeutig erkennbar: Wenn Eltern etwa ihre Kinder mit Prügel für Ungehorsam bestrafen, dann war der Ungehorsam die Ursache der Strafaktion, die Bestrafung für Ungehorsam der Zweck und die Tracht Prügel das dafür von Eltern für passend erachtete Mittel. Wenn eine Bank überfallen wird, dann ist Geldarmut die Ursache, Aneignung von fremdem Geld der Zweck und die Drohung mit bzw. der Einsatz Gewalt das eingesetzte Mittel. Und wenn die USA den Irak militärisch überfallen, dann weiß jedermann ebenfalls den Krieg als Mittel für den Zweck der Absetzung von Saddam Hussein anzugeben; und auch die Ursache des Krieges - die irakische Führung hat einfach nicht freiwillig Land, Leute und Öl an die USA ausgeliefert - ist inzwischen kein Geheimnis mehr.

Und das soll bei gewalttätigen Kindern und Jugendlichen anders sein? Kinder sollen für ihre Rohheiten weder einen Grund haben, noch einen Zweck wissen? Zwar mag es manchmal sein, dass Anliegen bzw. Zweck irgendeines gewalttätigen Übergriffs nicht unmittelbar erkennbar sind. Wenn etwa ein Jugendlicher "aus heiterem Himmel" einen anderen anrempelt und die bewusst provozierte Gegenreaktion zum willkommenen Anlass nimmt, den Gerempelten zu verprügeln, dann wird nicht selten die "Sinn- und Grundlosigkeit" daran festgemacht, dass der andere ihm doch nichts getan hat. Dabei ist dieser Zusammenschluss gänzlich unzulässig. Als ob Gewalt immer nur die "gerechte Strafe" oder zumindest die "verständliche Gegenreaktion" auf irgendeine Schädigung ist, die der Schläger zuvor erlitten hat. Was hat denn die Frau dem Manne "getan", der sie vergewaltigt? Natürlich nichts. Sie ihm nur nicht zu Willen. Und - um gleich drei Etagen höher zu springen - was hat der Saddam Hussein den USA "angetan"? Ebenfalls nichts, abgesehen davon, dass er nicht freiwillig den Irak unter USA-Aufsicht gestellt hat. Eine Unterlassung kann also ebenso der Grund für den Einsatz von Gewaltmitteln sein; sogar eine solche Unterlassung, die deswegen freiwillig gar nicht vollzogen werden kann, weil sie gar nicht als Anspruch formuliert worden ist. So verhält es sich nämlich bei dem angerempelten Jungen: Getan hat der dem "Schlägertypen" wirklich nichts. Nur hat er es unterlassen, dem Rohling per Unterwerfungsgesten mitzuteilen, dass er ihn für den Größten, Coolsten und Stärksten hält. Er hat es unterlassen, besser: er konnte gar nicht anders, als es zu unterlassen, weil er gar nicht wusste, was da für ein Anspruch auf ihn zukommt (und wahrscheinlich wusste dies sein Gegenüber bis kurz vor dem Zusammentreffen selbst noch nicht). Das ist kein Zufall, denn um ihn und seine Person ging es gar nicht. Er selbst war für den anderen nur gleichgültiges Material für den Zweck, für sich selbst und für andere per Einsatz seiner überlegen Physis den Beweis anzutreten, dass es sich bei ihm einfach um einen coolen Siegertypen handelt.

So gesehen geht es also bei gewalttätigen Kindern und Jugendlichen nicht anders zu als in der gewaltträchtigen Welt der Erwachsenen. Da wird mit Schlägen in der Schulklasse eine Beleidigung gerächt, für neue "Machtverhältnisse" auf dem Schulhof oder auf der Straße gesorgt; Skins sehen in Ausländern und in "undeutschem Gesindel" eine Gefahr für ihre deutsche Heimat, Gangs türkisch-stämmiger Jugendlicher kehren denselben Spieß um und Hooligans erkämpfen stellvertretend für ihre Fußballheimat Siege gegen fremde Fans.

b. Sprachdenkmal "Jugendgewalt"

Die Erfindung grund- und zweckloser Gewalt von Kindern und Jugendlichen hat im Begriff "Jugendgewalt" ihr Sprachdenkmal gefunden. Dieser Begriff will zwischen den Gründen und Anliegen von Schülern, die vom Anerkennungswahn "angetrieben" sind, von Skins, deren Rassismus gewalttätige Formen annimmt, und von Hooligans, die ihren Lokalfaschismus im Namen ihres Heimatvereins betreiben, nicht mehr unterscheiden. Alles ist eben "Jugendgewalt" und interessiert die entsprechenden Wissenschaftler bzw. Praktiker allein als Abweichung von dem, was sich hierzulande für Kinder und Jugendliche gehört. Dieser theoretische (Polizei-)Standpunkt entdeckt immer nur das gleiche: Diese Kinder und Jugendlichen entsprechen nicht dem Idealbild von - deutscher - Jugend, unterwerfen sich nicht den Normen für Ordnung und Anstand und halten sich nicht ans Gesetz. Doch was weiß man eigentlich über das Tun und Treiben solcher Kinder und Jugendlichen, wenn über sie nur vermeldet wird, dass sie etwas Gewünschtes nicht tun? Über ihr positives Handeln weiß man nichts! Was diese Kinder und Jugendlichen anstellen, welche Gründe sie dafür haben, welche Zwecke sie damit verfolgen, wie sie auf diese ihre Anliegen gekommen sind und warum ihnen die Gewalttat als Mittel zur Interessendurchsetzung so einleuchtet - all das lässt der Begriff "Jugendgewalt" im Dunkeln. Offensichtlich ist also auch nur von Interesse, am Verhalten von Jugendlichen die "Abweichung", die "Devianz", die "soziale Auffälligkeit" festzuhalten. Jugendforschung verkommt damit der Sache nach zur Polizeiwissenschaft, die in wissenschaftlicher Form allein dem Interesse zuarbeitet, dass die Jugend sich gefälligst den für sie gültigen Regeln zu unterwerfen hat.

Auch der in der einschlägigen Literatur vorgeschlagene Gewaltbegriff belegt diese Gleichgültigkeit noch einmal eindrucksvoll. Wenn es etwa heißt, das "Gewalt eine Verhaltensform ist, die zu persönlicher Schädigung führt"(3), oder wenn D.Olweus über Gewalt nur noch tautologisch zu vermelden weiß, dass sie dann vorliegt, wenn jemand "über eine längere Zeit den negativen Handlungen eines oder mehrerer anderer"(4) ausgesetzt ist, dann ist man sich nicht sicher, ob da von Steuereintreibung die Rede ist, vom Verlust des Geldbeutels, von der Verteilung schlechter Noten durch den Lehrer oder von einem Unfall. Jede Erinnerung daran, dass Gewalttaten irgendetwas mit unversöhnlichen Anliegen - welcher Art auch immer - zu tun haben müssen, dass folglich Gewalt das Mittel dafür ist, rücksichtslos gegenüber dem fremden Willen den eigenen zur Geltung zu bringen, ist von geringem Interesse. Wie sollte es auch anders sein - wo es allein um die Unterbindung der gewalttätigen Form der Verfolgung eines Anliegens mit seinem brisantem Inhalt geht, letzterer aber von minderem Interesse ist.

Zwangsläufig verfehlen denn auch alle praktischen Handlungsanleitungen zur Unterbindung von Gewalt, die von diesen Erklärungsmustern ausgehen, die Sache. (5)

Fazit 1: Gewalt lässt sich nur unterbinden - soviel steht jetzt schon fest -, wenn man deren Ursachen ermittelt hat. Und den Ursachen der Rohheiten von Kindern und Jugendlichen kommt man nur auf der Spur, wenn man erstens die Gründe und Zwecke untersucht, für die Gewalt als Mittel eingesetzt wird, und wenn man zweitens der Frage nachgeht, wieso solche Kinder und Jugendlichen von der Legitimität und Tauglichkeit des Mittels Gewalt überzeugt sind - wo doch Gewalt gegen Personen hierzulande moralisch geächtet und per Gesetz verboten ist.

2. Der Gewalthaushalt von Nationen, oder: Was der Bürger über Gewalt lernt.

Wenn nun Kinder und Jugendliche, die wissen, dass es eigentlich verboten ist, andere zusammenzuschlagen, Ausländer zu drangsalieren, Jacken zu "zocken" oder Geld zu erpressen, dies aber dennoch tun, dann ist folgender weiterführender Schluss fällig: Ächtung und Verbot von Gewalt, die Androhung der moralischen Dequalifizierung ("Du bist ein schlechter Mensch") oder die Drohung mit Strafe, die paradoxerweise selbst immer auf den Gewalteinsatz hinausläuft, scheinen bei Kindern und Jugendlichen - und wie man weiß, trifft auch dies auf Erwachsene zu - so wirksam nicht zu sein. Und etwas Drittes neben Ächtung und Verbot, nämlich die Kritik von Gewalt, nebst der Kritik von Verhältnissen, die immer wieder den Einsatz von Gewaltmitteln (in der Politik natürlich nur als "letztes Mittel") hervorbringen, steht selten auf der Tagesordnung all der Betreuungseinrichtungen, die sich die Unterbindung von Gewalt zum Anliegen machen. Verwundern kann beides nicht, weder die nur bedingte Wirksamkeit von Ächtung und Verbot noch die fehlende Befassung mit bzw. Geltung von Gewalt-Kritik.

a. Gewaltkritik

Dabei ist Letzteres, die Gewaltkritik, leicht zu haben, wenn man sie denn leisten möchte: Der Einsatz von Gewalt setzt auf das Brechen eines fremden Willens, weil der sich dem eigenen nicht gefügig zeigt. Und da der fremde Wille nur gebrochen werden kann, indem das dem eigenen Willen entgegengesetzte Handeln unterbunden wird, ist die Androhung oder Ausübung physischen Zwangs angesagt. Jeder anderen möglichen Umgangsweise mit dem konträren Anliegen wird eine Absage erteilt: Dem argumentativen Austragen des Gegensatzes, dem Kompromiss oder dem freiwillige Verzicht einer Seite auf die Durchsetzung seines Interesses - und das sind nun einmal drei von vier alternativen Formen (6), die vom Gewalttäter ausgeschlagen werden. Er setzt auf - möglichst - überlegene Physis nebst einigen Hilfsmitteln, folglich darauf, dass derjenige, der dem anderen mehr Schmerz androhen oder zufügen kann, sich mit seinem Anliegen, seinem Willen gegen den anderen durchsetzt. Das ist die schlichte Logik der Gewalttat. Und selbstverständlich muss man kein Wort darüber verlieren, dass dies immer und in jedem Fall verwerflich ist - übrigens auch in dem Fall, wo der Einsatz von Gewalt eine Not abwehrt. Dass ein Mensch zur Notwehr gezwungen ist, adelt keineswegs die zum Zwecke der Befreiung aus der Notlage zum Einsatz gekommene Gewalt. Die war dann schlicht notwendig, aber bleibt doch Gewalt und unterliegt folglich der genannten Kritik.

Ergänzt werden soll diese Kritik durch den immanenten Hinweis, dass der Gewalteinsatz in der Regel deswegen zudem sehr "unvernünftig" ist, weil er sich selbst regelmäßig perpetuiert. Da der Gegensatz der Anliegen, die sich ins Gehege kommen, so gar nicht aus der Welt geschafft wird, ja auch gar nicht werden soll, kommt es zur Gewalt-Eskalation. Der Kontrahent ist bemüht, sich überlegene Mittel zu verschaffen, was den ursprünglichen Angreifer gleichfalls zu verstärkten Anstrengungen an dieser Front führt usw. Folglich ist gar nicht abzusehen, wer schließlich der "Sieger" und wer der "Verlierer" ist; nicht selten gibt es dann auf allen Seiten nur "Verlierer" - zumal wenn es sich um jugendliche Gewalttäter handelt, die anschließend immer von der überlegenen Schul- oder Staatsgewalt gemaßregelt werden.

2.Fazit: Richtige Gewaltkritik kann folglich nie bei der moralischen Verurteilung oder Ächtung der Gewalt stehen bleiben, sondern muss neben der Kritik der Gewalt zwangsläufig die Frage nach gesellschaftlichen Ursachen der Entstehung von antagonistischen Interessen, Anliegen, Wünschen, Zwecken usw. aufwerfen, die jeder Gewalttat zugrunde liegen. Denn die liegen nun einmal nicht in der Menschennatur begründet, sondern haben immer etwas mit Herrschaft, Eigentum und Konkurrenz zu tun.

b. Gewaltverbot und -ächtung

Warum moralische Ächtung und Strafandrohung die Gewalt nicht aus der Welt schaffen, liegt gleichfalls auf der Hand. Denn in beiden Fällen wird das Urteil, Gewalt ist ungehörig und nicht erlaubt, von denen, die es in die Welt setzen und ihre Einhaltung durchsetzen, immer wieder und gleich mehrfach eindrucksvoll durchbrochen, also widerlegt.

Zum ersten erlaubt sich die Staatsgewalt selbst sehr wohl den Einsatz von Gewaltmitteln und zwar im Bewusstsein, dass sie natürlich immer nur "gute Gründe" für die Gewalt besitzt, die sie ihren Bürgern untersagt und welche sie bei Zuwiderhandlung mit ihren Staatsgewaltmitteln sanktioniert. Sogar drei - angeblich - getrennte Gewalten hat sie sich eingerichtet; und der Gewaltapparat selbst, über den sie verfügt, stellt alles vollständig in den Schatten, was gelegentlich Bürger an Gewaltmitteln aufbringen. Nur in ganz seltenen Fällen macht der Staat von seinem ausschließlichen Recht auf den Einsatz von Gewalt eine Ausnahme und stattet auch solche Bürger, die als Staatsdiener nicht direkt seinen Gewaltapparat bedienen (wie z.B. Polizei-, Militär-, Grenzschutz-, Gefängnispersonal), mit dem Recht zur Gewaltanwendung aus: Dazu gehören interessanterweise Erzieher, die von Rechts wegen über eine Erziehergewalt verfügen; was schon den Schluss zulässt, dass Lehrer und Eltern angehalten sind, ein Stück Staatsräson am Nachwuchs durchzusetzen.

Es gibt noch einen zweiten Grund, warum Verbot und Ächtung der Gewalt nicht irreversibel Einhalt gebieten. Offensichtlich wissen nämlich Staatsvertreter sehr genau, dass ihre Bürger in der normalen Verfolgung ihrer Alltagsgeschäfte ständig in Interessenkollisionen untereinander oder mit der Staatsgewalt geraten; und zwar in solche Kollisionen, die sie glauben nicht anders als mit Fäusten, Messern oder Pistolen lösen zu können. Und weil das die Staatsvertreter wissen, geben sie dem Ruf der Bevölkerung nach gewaltsamer Durchsetzung ihrer Interessen gegen andere nach. In der Tat: Die Bürger werden aufgefordert, auf das Mittel der Gewalt zu setzen. Das klingt erst einmal paradox, ist es aber gar nicht. Denn natürlich sagt der Staat nicht: "Tragt Eure Gegensätze in Sachen Eigentum, Eigenstumsgrenzen, Kinder und Frauen, Erfolgen und Niederlagen in der Konkurrenz usw. selber gewaltsam aus!" Vielmehr ruft er seine Bürger auf, auf die Staatsgewalt, die dritte Gewalt, die Judikative, zu setzen und diese aufzufordern, mit ihrer Rechtshoheit und deren unerbittlicher Exekution über solche Kollisionen zu befinden. Der Bürger selbst soll gerade nicht Gewalt ausüben, dies soll er der Staatsgewalt überlassen, die dann mit ihren Gerichten über die Berechtigung von Interessen befindet und deren Richterspruch per Gewalt Gültigkeit verleiht. Jede andersartige Regelung von Interessenkoalitionen ist damit verboten und durch den hoheitlichen Gewaltakt des Rechtsspruchs ersetzt. Und der, das lehrt die Erfahrung, gilt faktisch auch nur, insofern sich das Recht per Gewalt durchzusetzen in der Lage ist. (7)

Inwieweit den großen wie den kleinen Bürgern dieses, auch Herrschaft genannte Verhältnis nun einleuchtet, nach der der Staat sich - im Idealfall - sogar ein Gewaltmonopol zulegt und damit den Gewaltverzicht der Privatleute durchsetzt, ist eine andere Sache.(8) Denn es liegt im Wesen des Rechts begründet, dass in der Regel vor Gericht immer einer Recht bekommt und der andere erfahren muss, dass er mit seinem Anliegen im Unrecht ist, folglich sein Interesse vor dem Recht keinen Bestand hat , er also von seiner Verfolgung ablassen soll. Das zu akzeptieren stellt eine gewisse Härte dar. Um sich dem Richterspruch locker zu unterwerfen, da muss man sich daran gewöhnt haben, bereits selbständig die eigenen Anliegen nicht etwa auf ihre Güte und Vernunft, sondern auf ihre Rechtmäßigkeit- was eben ganz und gar nicht dasselbe ist - zu überprüfen. Weswegen sich der Bürger gelegentlich auch vom Recht ungerecht behandelt fühlt und sich privat im Recht wähnt, wenn die staatliche Judikative das ganz anders sieht. Wie dieser Dissens in solchen Rechtsfragen, in denen die private Rechtsauslegung gegen das Staatsrecht steht, ausgeht, ist hierzulande erst gar keine Frage: Zu überlegen ist die Staatsgewalt und lässt dies solche aufmüpfigen "Kohlhasen" auch spüren. (9) Sie erklärt das privat angemaßte Recht einfach zum Wahn, obwohl der Bürger gar kein anderes Urteil bemüht hat als der Staat. Auch er erklärt nur, dass sein Interesse mehr als ein partikulares Interesse ist, es vielmehr ein höheres und allgemeines Gut auf seiner Seite hat, nämlich die Rechtmäßigkeit desselben. Weswegen denn auch in diesem Streit - Recht wider Recht - jene Rechtsauffassung siegt, die die größeren Kanonen hinter sich hat.

Es darf, weiß der Staat, gar nicht einreißen, dass sich Bürger anmaßen, das Recht auf ihre Weise zu definieren und gegen das gültig gemachte Recht in Anschlag zu bringen. Zu sensibel ist so ein Gemeinwesen, wie das kapitalistische, das zu seinem Funktionieren - im Unterschied zu seinen feudalen Vorgängern - eben den Bürger braucht, der sich aus freien Stücken den Sachzwängen der Verhältnisse akkomodiert. Genau deswegen wird auch das Gewaltverbot um die Gewaltächtung ergänzt(10): D.h. es wird schwer daran gearbeitet, dem Bürger zusätzlich zur Strafdrohung Gründe mitzuteilen, die ihm die freiwillige Unterwerfung unter das Recht aus Überzeugung von dessen Güte und Notwendigkeit nahe legen sollen.

Diese Überzeugungsarbeit fällt jedoch drittens auch nicht sehr überzeugend aus. Denn ob sie mit dem 5. Gebot, dem Kant´schen Imperativ und seiner Übersetzung in die Volksweisheit "Was du nicht willst, was man die tu´, das füg´ auch keinem anderen zu!" operiert oder mit klugen politologischen Theorien, denen zufolge etwa der Mensch von Natur aus ein Wolf ist, der die Staatsgewalt zu seiner Zügelung braucht..., immer ist dem Bürger ziemlich klar, dass er dazu aufgefordert wird, die Ausübung der Gewalt anderen zu überlassen. Und für die gelten dann plötzlich alle Argumente und Gebote nicht mehr.

Für Kriege, in denen das Totschlagen als Beruf zu Ehren kommt, bedarf es übrigens - das sei aus dem aktuellem Anlass des Irak-Krieges noch eingefügt - deswegen immer einer besonderen Propaganda, weil im Krieg dem uniformierter Bürger alles erlaubt ist, was sonst unter Strafe steht. Die allerhöchsten moralischen Werte wie Frieden, Freiheit, Schutz der Heimat, Ehre der Nation usw. müssen es dann schon sein, die da wie immer nur verteidigt werden. Auf jeden Fall müssen die vorgestellten Zwecke die mörderischen Mittel heiligen, wenn die zu praktischem Kriegsdienst oder geistigem Beistand aufgeforderten Bürger ihrem Vaterland "in solchen schweren Stunden" die Treue halten sollen. Das sollte man sich dringend merken: Mit Berufung auf hohe und höchste Werte wird also ebenso für Gewaltverzicht wie für die Zustimmung zu staatlichen Gewaltorgien geworben. Merkwürdig ist das schon und spricht weniger für die Überzeugungskraft von Moral als vielmehr für ihre Legitimationsfunktion.

3. Fazit: Der Bürger lernt also von Kindesbeinen an über Gewalt folgendes: Erstens ist Gewalt nicht erlaubt; zweitens gilt das nicht für die Staatsmacht, die hat sich die Gewalt erlaubt; denn drittens kennt sie dafür gute Gründe, von denen viertens der Beste darin besteht, dass sie die Gewalt rechtmäßig ausübt, was sie fünftens im Ernstfall immer damit beweist, dass sie die überlegene Gewalt ist: dann ist es der Erfolg im Einsatz der Gewalt, der Recht gibt.(11)

c. "Gewalt kommt von der Gewaltimitation"

Es kann nach diesem kurzen Blick auf den national und international einsetzbaren Gewalthaushalt des bürgerlichen Staates also wirklich keine offene Frage mehr sein, wieso Erwachsene, Kinder und Jugendliche zur Gewalt greifen. Folgendes haben sie nämlich bei und von ihm gelernt: Es bedarf der guten Gründe, am besten der Berechtigung, um dann möglichst überlegene Gewalt im privaten Bereich als Mittel für die eigenen Anliegen exekutieren zu können. Dass der auf die Unversehrtheit seines Gewaltmonopols bedachte Staat jedoch in all diesen Fällen einschreitet, Strafen androht, straft, wegsperrt oder hier und da noch die Todesstrafe verhängt, zeigt nur eines: Was und wer tatsächlich berechtigt ist, entscheidet nicht die Überzeugung, im Recht oder berechtigt zu sein, sondern ganz allein und immer wieder die überlegene, d.h. erfolgreich eingesetzte Gewalt, die letztlich allein recht gibt und Recht verleiht.(12)

Es ist deswegen wissenschaftlich auch fahrlässig bis zynisch, dass immer noch die Theorie im Umlauf ist, die "Jugendgewalt" käme daher, dass Kinder und Jugendliche die Gewalt, mit der sie in den "Medien" (Videos, Game-boys, PC-Spiele und Action-Filme werden da genannt) konfrontiert werden, imitieren würden. Als ob es nur die virtuelle, fiktive Plastik- und Pixel-Gewalt gäbe! Als ob die Kids nicht von der realen Gewalt umgeben wären, mit der Politik ihre Zwecke gegen Ausländer, Demonstranten, "Kriminelle", "Terroristen", "Schurkenstaaten" etc. durchsetzt! Als ob nicht jede Tagesschau von solchen Gewalt- und Blutorgien ausführlichst und in Farbe berichtet! Aber das ist für die Mehrheit der Jugendgewaltforscher eigentlich keine Gewalt, zumindest keine, die ihrer Auffassung nach in den Nachahmungshorizont der Kinder fällt; denn dabei handelt es sich um die Politik der Friedenssicherung und Ordnungsstiftung. Man hat sich ja schon fast selbst daran gewöhnt, nur das als Gewalt zu bezeichnen, was von der politischen Führung als nichtberechtigte Gewalt verurteilt wird. Staatlich legitimierte Gewalt, das ist eigentlich keine Gewalt, dagegen ist nichterlaubte Gewalt schwer als Ordnungsverstoß zu kritisieren. Oder noch einmal zugespitzt: Ausgerechnet an jener Gewaltinstanz, die ihre Gewaltausübung nur deswegen als legitim bezeichnen kann, weil sie über die überlegenen Gewaltmittel verfügt, ausgerechnet an der soll man nicht die Gewalt, sondern nur noch "gute Zwecke" wahrnehmen.

3. Anliegen und Zwecke, die Kinder und Jugendliche gewaltsam verfolgen

Auch für die Anliegen, die Kinder und Jugendliche heute gewaltsam verfolgen, gilt, dass es sich dabei um Angelegenheiten handelt, mit denen sie von Kindesbeinen an konfrontiert werden, die nicht selten explizit zum Lernstoff in Schule und Familie gehören, die in der Öffentlichkeit Gegenstand permanenter Belehrung sind und die ihnen eingeleuchtet oder sich bei ihnen sogar zu einer Haltung verfestigt haben, wenn sie sie schließlich ganz gegen den gültigen Anstand und die geltende Ordnung mit Gewalt verfolgen. Natürlich ist mit jedem dieser Bestandteile des gesamtgesellschaftlichen Lehrplans das glatte Gegenteil beabsichtigt. Immer geht es letztlich nur um das eine: Es geht darum, den Jugendlichen die freiwillige Zustimmung zum gesamten Programm der Gesellschaft, um die sie nun einmal nicht herumkommen, abzuverlangen; und deswegen müssen sie mit Argumenten und geistigen Techniken vertraut gemacht werden, die sie in Stand setzen, auch dann an ihrer Heimat festzuhalten, wenn die es weniger gut mit ihnen meint.

Wenn nun das Resultat solcherart Erziehung und Volksbetörung immer wieder zu "Auffälligkeiten" und "Aufsässigkeiten" von Kindern und Jugendlichen führt, dann sind - so muss man schlussfolgern - in diesem Lehrstoff offensichtlich einige Minen und Sprengsätze enthalten, die es unkalkulierbar machen, ob die praktische Anwendung des Gelernten zu dem erwünschtem oder ob es zu unerwünschtem Tun führt.

Dies soll im folgenden an Schülergewalt, Skinheads und Hooligans gezeigt werden.

a. Schülergewalt

Schüler erfahren in Familie und Schule, im Verein oder auf der Straße immer wieder, dass von ihnen Durchsetzungsqualitäten verlangt werden, weil die Verfolgung ihrer Neigungen oder die Erfüllung von Pflichten die Beteiligung an offiziellen oder privaten Konkurrenzveranstaltungen erfordert. Da geht es in der Schule nicht ums Lernen, vielmehr muss man besser sein als andere, um höhere Schulziele zu erreichen; da reicht es nicht, im Beruf einfach seine Aufgaben zu erfüllen, sondern da muss man schon zwecks Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes andere mit Sonderleistungen ausstechen; da zählen bei Freundschaften häufig nicht Sympathie und gleiche Neigungen, sondern da braucht es schon mal mehr Geld, Attraktivität und modischen Habitus, um Freunde zu gewinnen; nicht selten wollen die Geschwister in Sachen Gehorsam, Höflichkeit und häuslicher Hilfsbereitschaft ausgestochen werden, wenn man der Elternliebe teilhaftig werden will; und da gilt im Sportverein in der Regel nicht das Interesse am schönen und spannenden Spiel, sondern nur der unbedingte Erfolg im Wettkampf.

Vom Bestehen in der staatlich eingerichteten und kontrollierten Konkurrenz - in Schule, auf dem Arbeitsmarkt und im Beruf - hängt ab, wie man durchs Leben kommt, ob man auf lebenslange Lohnarbeit festgelegt wird oder nach dem Studium in die höheren Ränge der Gesellschaft aufsteigen kann. Und an der Behauptung in den privaten Rivalitäten hängt für viele Menschen zusätzlich ihr Seelenheil. Dieses Konkurrieren und Abgleichen, dieses Austragen von Rivalitäten, das bis in die absurdesten Abteilungen des privaten Alltags geht, stellt keineswegs eine Randerscheinung in Leben des bürgerlichen Individuums dar. Als Kind und Jugendlicher und erst recht als Erwachsener befindet man sich bzw. begibt man sich permanent in Konkurrenzlagen. Immer ist diejenige, der Geld verdienen muss, darauf angewiesen, sich in diesem gesellschaftlich organisierten Hauen und Stechen zu bewähren, d.h. Konkurrenten auszustechen. Und selbst im Privatleben gibt es - wie schon erwähnt - selten Erholung davon, eher schon die Fortsetzung: Wenn Eltern Kinder gegeneinander ausspielen, wenn das Geschlechtsleben als Vergleichsveranstaltung ("Wie war ich?") stattfindet, das Biertrinken als Wettsaufen veranstaltet wird und in der Nachbarschaft der Kampf um den gepflegtesten Vorgarten und das sauberste Auto entbrennt, dann zeigt sich daran, dass die Bürger sich vielfach selbst privat keinen anderen Umgang untereinander vorstellen können als jenen, zu dem sie in der Konkurrenz verdonnert werden: Besser, schöner, stärker, imposanter, trinkfester, modischer, beliebter .... als andere sein, wird dann bei nicht gerade wenigen zum Lebensinhalt.

Zwangsläufig bringt diese Dauerbewährung im Vergleich mit den kleinen oder großen Mitmenschen nach Reichtum und Kraft, nach Schönheit und Schick, nach Noten und Punkten oder Mut und Risikobereitschaft immer Sieger und Verlierer hervor. Besser gesagt: Es ist gerade die perfide Eigenart von Konkurrenz, dass es Verlierer geben muss, dass sich folglich jedermann anstrengen muss, mit eigener Anstrengung dazu beizutragen, dass andere verlieren. Bei denen bleibt dann der Frust über den eigenen Misserfolg nicht aus, der - gleichfalls einem Wesensmerkmal der Konkurrenz folgend - vielfach auf die eigene Kappe genommen wird, denn immerhin - so geht dann die Logik - war es die eigene Bemühung, die im Vergleich nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Deswegen liegt der Fehlschluss bei Siegern und Verlierern gleichermaßen nahe, dass fehlender Erfolg den Versager ausweist. So wird schnell aus dem Urteil, das beispielsweise die Schule über den Schüler fällt, wenn sie ihm eine Fünf nach der anderen verpasst, ihn sitzen bleiben lässt oder ihm den Zugang zu Gymnasium oder Abitur verwehrt, eine Eigenart des Schülers. An ihm, seinem (fehlenden) Willen, seiner (mangelhaften) Begabung, seiner (defekten) Natur etc. soll es dann liegen, wenn die Schule beschlossen hat, ihn nicht weiter lernen zu lassen, ihn also von höherer Bildung auszuschließen.

Entscheidend ist nun für die hier anstehende Frage folgendes: Wie gehen die betroffenen Schüler und wie gehen die Mitschüler mit einen solchen Befund der Schule um? Mitschüler können sich den Fehlschluss zu eigen machen und ihn praktisch noch radikalisieren, indem sie z.B. den "Versager" ausschließen, verspotten oder quälen. Sie können sich ihn aber auch zum neuen Helden erwählen, etwa wenn der ganz "cool" so tut, als würde ihn der Schulbefund nichts angehen oder wenn er von den Mitschülern kompensierend Anerkennung einfordert, indem er mit allen ihm zu Gebote stehenden Angebereien aufwartet und z.B. ankündigt, es den Lehrern heimzahlen zu wollen.(13) Oder vielleicht kommt die Schule dem zuvor und legt Programme zur Einübung von Frustrationstoleranz auf, damit der Heranwachsende lernt, jeden Frust, den sie ihm verschafft, gegen sich statt gegen die Verursacher zu kehren und ihn eventuell gar in unerwünschten Formen abzureagieren. Auf solche widerlichen Programme kommen Lehrer, die etwa mit W.Heitmeyer der Auffassung sind, "dass niemand mit mangelnder Anerkennung leben kann".(14) In solchen Veranstaltungen soll die Seele wieder ihren Frieden finden, ohne dass diese Lehrer jemals auf die Idee kämen, am Grund des Seelenunfriedens etwas zu ändern.

Natürlich verfängt so etwas nur bei solchen Schülern, die bereits den materiellen Gehalt des Schadens, den ihm die Schule mit einer ihrer Sortierungsmaßnahmen zugefügt hat, in eine - psychologische - Anerkennungsfrage verwandelt haben. Der Verdacht oder die Gewissheit, jetzt als Person von anderen weniger oder gar nicht geschätzt zu werden, weil die Schule einem übel mitgespielt hat, zählt dann mehr als der Umstand, dass mit dem schlechten Zeugnis, der verweigerten Versetzung oder dem Beschluss, ihn der Hauptschule zuzuweisen, schon so einiges über seine gesamte zukünftige Lebensperspektive negativ vorentschieden ist.

Wer sich bis zu dieser Sorte Unvernunft vorgearbeitet hat, das Urteil über die eigene Person ganz von der Anerkennung abhängig zu machen, die ihm z.T. wildfremde Menschen aus seiner Umgebung erweisen; wer daraus gar abzuleiten gewillt ist, wie viel man als Person wert sei ("Selbstwert"), der gibt sich nicht damit zufrieden, wenn seine Angebertouren mal nicht oder nicht mehr verfangen und ihm die gewünschte Anerkennung folglich nicht zuteil wird. Dann lässt man es nicht mehr darauf ankommen, dass andere einem von sich aus die Reverenz als "cooler Typ" erweisen, sondern erzwingt sie. Dann radikalisiert sich schon mal die Unvernunft zur Gewalttat und der "Mangel" des Anerkennungswahns, dass man sich mit dem Selbstwertbefund ganz in die Abhängigkeit von anderen begeben hat, wird auf brutale und äußerst selbstbewusste Weise korrigiert. Dann tritt man den Beweis, doch ein Siegertyp zu sein, dadurch an, dass man physische Stärke ausübt, sie als "Macht" wertet und die physische Unterlegenheit des Opfers als Beweis eigener Überlegenheit und Siegfähigkeit genießt.

Wenn das Versagerurteil gar existenziell genommen und zu einer - moralisch eigentlich hoch im Kurs stehenden - Ehrfrage erhoben wird, kann es schon mal zu Littleton oder Erfurt kommen. Dass Erfolg adelt, Misserfolg zur Ausgrenzung führt und dass diese den Menschen stigmatisiert - egal wie das eine oder das andere zustande gekommen ist -, das wussten nicht nur der Schüler Robert S. vom Gutenberg-Gymnasium in Erfurt und die Schüler aus Littleton, das hat z.B. auch der Familienvater beherzigt, der seine Familie ausgelöscht hat, weil er sich und ihr die Schande der Armut ersparen wollte. Gewalttat das eine wie das andere - einmal gegen die Familie, das andere mal gegen die Lehrer, denen der Erfurter Schüler seinen Ehrverlust angekreidet hat. So etwas liegt in der Logik der Ehre, deren Protagonisten nicht umsonst im Ruf stehen, über Leichen zu gehen - wie dies in den zum Bildungskanon der höheren Bildungsanstalten gehörenden deutschen Dramen nachzulesen, im Duell zu sehen und auf dem Feld der Ehre nach der Schlacht zu besichtigen ist.

4. Fazit: Dreierlei gilt es bis hierher festzuhalten. Erstens ist diese Schülergewalt weder schüler- noch jugendspezifisch, weder ist sie typisch für Jungen noch eine Eigenart von Hauptschülern. Der Anerkennungskult und Selbstbewusstseinswahn erfasst Alt und Jung, Frau und Mann, selbst Arm und Reich(15). Zweitens beginnt die Rohheit und Brutalität dieses Treibens nicht erst dort, wo Blut fließt, Messer zum Einsatz kommen und Schülertaten zum öffentlichen Skandal werden. Es sind die Anliegen selbst, die von erlesener - geistiger - Rohheit sind, und zwar auch dann, wenn sich das Selbstbewusstsein in hierzulande noch oder gerade noch akzeptierten Formen austobt.(16) Drittens handelt es sich dabei um gesellschaftlich durchgesetzte Formen des selbstdenunziatorischen oder selbstbetrügerischen Umgangs mit tatsächlichen oder eingebildeten Fehlschlägen, die alle gesellschaftlichen Ursachen von Misserfolgen in psychologisierte Werturteile über die eigene Person übersetzen. Da begreift sich der Mensch als Versager, lebt danach und greift zur Flasche; da bezichtigt er sich, zuviel gewollt zu haben, oder versucht mit seinem Selbstbild dadurch ins Reine zu kommen, dass er allerhand Kompensationsversuche - angeben, sich im Lichte von Siegern sonnen(17), Starkult betreiben, einmal im Fernsehen auftreten etc. - anstellt. All das ist erlaubt oder geduldet; nicht geduldet ist es, wenn haargenau derselbe Wahn sich zur Ehrfrage radikalisiert und mörderisch wird; was natürlich, um es noch einmal zu betonen, nur bei Privatleuten stört - denn der Staat lässt keine Mörder, sondern seine Soldaten auf fremde Menschen los, wenn die Ehre der Nation auf dem Spiel steht - obwohl im Endeffekt in beiden Fällen ziemlich gestorben wird.

b. Hooligans

Hooligans sind die radikalisierte Erscheinungsform jenes Sportnationalismus, der noch bei jedem internationalen Sportgroßereignis von allen um deutsche Erfolge bangenden Deutschen eingefordert und von ihnen erfüllt wird. So gilt es als gänzlich selbstverständlich, dass bei Heimspielen das Publikum der 12. Mann auf dem Platz ist, weil in der Tat das Gegröle von zigtausend nationalisierten Sportfans Gegner einschüchtern kann und das Abrufen von Leistung zur reinen Nervensache macht. "Unterstützt unsere Mannschaft", schreibt dann nicht nur die BILD, sondern ruft auch der eine oder andere hochrangige Politiker. Dass sie damit nicht etwa den vergleichsweise harmlosen Beifall meinen, den man gelungener Leistung spenden soll, sprechen sie selbst aus: Immerhin geht es allein um das Anfeuern der "Unseren", also um deutsche Siege, die nicht nur politisches Repräsentationsmittel sind, sondern auf die ein Land wie "das unsere" auch ein Recht hat. Wie sonst könnte bei Niederlagen von einer Schande die Rede sein, die irgendwelche kickenden Sportidioten über Deutschland gebracht hätten.

Die Radikalisierung, die bei Hooligans als Gewalt geächtet ist, fußt auf eben diesem Rechtsstandpunkt, den sie gegenüber einer Nationalmannschaft ebenso unerbittlich einnehmen wie gegenüber ihren Heimatvereinen. Das Chaos, inklusive eines Toten und einiger Verletzter, das deutsche Fußballfans vor einigen Jahren in einer französischen Kleinstadt angerichtet haben, ist die ganz getrennt vom Spielfeld praktizierte Botschaft, dass Deutschland, Schalke, Bayern etc. nicht etwa die besseren Kicker besitzt, sondern gewinnen muss, weil es sich immerhin um die Repräsentanten der nationalen oder lokalen Heimat handelt, und weil nun einmal der Beleg für das nationalistische Urteil, es auf jeden Fall mit seiner Heimat gut getroffen zu haben, gerade Abstand nimmt von jeder vernünftigen Bilanz in der Frage, wie man als Schüler, Lehrling, Arbeiter oder Arbeitsloser nun eigentlich da steht, welche Wünsche man sich längst abschminken musste und wie die eigene Zukunft als Teilzeitarbeiter und Rentner später aussieht. Es nimmt vielmehr Maß man deutschen Erfolgen - oder denen von Schalke, Werder, Bayern... - , feiert nationale bzw. lokale Siege wie die eigenen und reiht sich so in jene Kompensationsversuche ein, von denen gerade die Rede war. Der Schritt mehr, den Hooligans machen, besteht allein darin, auf Siege ihrer Heimat nicht zu warten, sondern sich selbst als einen Teil von ihr zu verstehen und die Beweise der Überlegenheit der Nation bzw. der Lokalmannschaft deshalb rund ums Stadium selbst dadurch herzustellen, das man fremden Hooligans oder der Polizei in der Fremde eine Straßenschlacht liefert.

c. Skinheads

Den Hooligans stehen Skinheads weder in Nationalismus noch in Rassismus viel nach.(18) Sie machen, wenn sie Ausländer durch die Straßen jagen und anzünden, wenn sie Behinderte drangsalieren und Obdachlose tottreten, mit dem Grundprinzip des Nationalismus ernst. Die Sortierung zwischen deutsch und undeutsch ist ihr einziges praktisches Anliegen. Und auch sie haben sich das nicht selbst ausgedacht, sondern von der demokratischen Ausländerpolitik gelernt, die mit Sachnotwendigkeit immer und in all ihren Erscheinungsformen ausländerfeindlich ist. Als fanatische Schüler dieses Sortierungsgedankens geht ihnen die nationale Politik zur Ausweisung und "Ausmerzung" von allem "Undeutschen" nicht weit genug. Diese ihre Kritik bestimmt ihren Nationalismus so sehr, dass sie nicht nur in allen Ausländern und Undeutschen eine Gefahr für das Deutschtum erblicken und das nicht nur bei den nächsten Wahlen mit einem Kreuz für die DVU oder NPD ausdrücken, sondern der Gefahr selbst praktisch entgegen treten und zwar rücksichtslos gegenüber dem Leben von Ausländern und der Strafe, die ihnen selbst dafür droht. (19)

4. Schlussfolgerungen zur Frage der "Gewaltprävention"

Was hat es nun mit Gewaltprävention, -intervention und -"postvention" auf sich? All dies findet statt, aber zugleich gibt es auch die Feststellung - die wohl zur Wahl des Themas dieser Tagung geführt hat -, dass der Erfolg zu wünschen übrig lässt bzw. die gängigen Methoden unbefriedigend sind.

a. Jugendpolitik

Was gibt es in diesem Bereich? Da ist zunächst die 1.Abteilung, die Jugendpolitik. Die lässt es durchaus nicht an Maßnahmen fehlen: Sie hat eine Kampagne gegen den Rechtsextremismus geführt. Dann gibt das Jugendrecht, das gerade wieder einmal verschärft worden ist. In Hamburg ist jüngst der Zusammenhang zwischen Schule, Jugendfürsorge und Jugendknast ausgebaut und um die Einführung von geschlossener Unterbringung für Wiederholungstäter ergänzt worden. Die französische Innenpolitik ist auf die glorreiche Idee gekommen, Lehrerbeschimpfung und Schwänzen gleich als Straftatbestand zu werten und Eltern, die ihre Kinder nicht Mores lehren, mit Entzug von Sozialhilfe zu bestrafen. Kurz davor ist eine weitere Maßnahme Hamburger Behörden angesiedelt, die als eine Art Jugendüberwachungsorgan sofort bei den Eltern auffällig gewordener Kinder und Jugendliche vorstellig wird und klärt, ob den Eltern die Domestizierung ihres Nachwuchses noch zugetraut werden kann oder ob gleich der Staat einschreiten muss. Dass in Deutschland flächendeckend Ganztagsschulen eingeführt werden sollen, verweist zusätzlich auf die Erkenntnis der Schulbehörden, dass ganztags kontrollierte Jugend eben weniger "auffällig" werden kann. Und wenn Frau Buhlmann vorschlägt, mit der Einrichtung solcher Schulen an "sozialen Brennpunkten" zu beginnen, dann tritt der behauptete Zusammenhang mit PISA etwas in der Hintergrund. Für randalierende Fans gibt es Fanprojekte, die sich des guten Kontaktes zur örtlichen Polizei rühmen und regelmäßig ihr das Feld überlassen, wenn die Fans mal wieder zeigen, dass sie keine allzu begeisterten Fans der Fan-Projekte sind.

All das gibt es, all das verfolgt die Logik der Androhung und des Vollzugs von Strafen vermittels der probaten Mischung aus sozialem Psychoterror, Polizeipädagogik und Staatsgewalt und ist natürlich wirksam. Denn es überlegt sich bekanntlich jedermann, der zu der einen oder anderen Rohheit aufgelegt ist, drei mal, ob er die drohende Strafe in Kauf nehmen will. Wirksam allerdings nur in dem Sinne, dass keine nicht-legitimierte Gewalttat unverfolgt bleibt, Gewalttäter bestraft werden und deswegen die Drohung mit überlegener Gewalt "potentielle Täter" abschreckt. Dadurch wird daraus natürlich eine Dauerveranstaltung, da der Grund solcherart Interventionsbedarfs nicht angetastet wird. Deshalb sind all diese Maßnahmen zugleich auch völlig unwirksam.

Wundern kann man sich darüber nicht, denn die genannten Gründe für Gewalt, die auch Kindern und Jugendlichen bereits einleuchten, und die Anliegen, die sie mit Gewalt verfolgen, einschließlich deren Ursachen werden natürlich nicht aus der Welt geschafft werden, sollen bzw. dürften auch nicht aus der Welt geschafft werden - sofern denn jemand aus der Riege verantwortlicher Politiker von ihnen einen Begriff hätte. Sie sind nämlich konstitutiv für den hübschen demokratischen Kapitalismus: Ein nationalistisch erzogenes Volk wird gewünscht, den selbstlosen Einsatz von Bürgern für die Heimat sieht jeder Politiker gern; und wenn Menschen die chronischen Beschädigungen ihrer Lebensperspektive durch Schule und Beruf eher als eigenes Versagen oder als Frage des Selbstbewusstseins aufarbeiten, als dass sie auf die Idee kämen, dass hier vielleicht ein ziemlich schädliches System genauer unter die Lupe zu nehmen wäre, so ist das der hiesigen demokratischen Führung allemal recht. Natürlich darf keine dieser gewünschten und als Lernstoff verabreichten Tugenden, Einstellungen und Techniken aus dem Ruder laufen: Der ausländerfeindliche Nationalismus darf sich nicht gegen seine politisch durchgesetzte, demokratische Variante verselbständigen und damit politisch dysfunktional werden; der gern beim Sportsfreund abgerufene Sportfanatismus darf nicht zur Ordnungsstörung werden;und das zum Erziehungsziel avancierte Selbstbewusstsein hat sich auf seine Selbsttäuschungsfunktion zu beschränken, ohne dass die "coolen Typen" auf die Idee kommen, der Welt per Gewaltakt praktisch Beweise ihrer eingebildeten wahren Größe liefern zu wollen.

b. Sozial- und Pädagogik

Und dann gibt es noch eine 2. Abteilung. Die besteht in einer Fülle gutgemeinter, aber selten gut durchdachten Bemühungen, die nicht gleich auf Strafe oder Strafdrohung setzen möchten: Darunter fällt etwa die "Akzeptierende Jugendarbeit, die rechtsextreme Jugendliche auf den rechten Weg zurückbringen will und dabei deren rechte Gesinnung ausblendet; da wird Anti-Aggressions-Training ausgerechnet für Leute angeboten, die "Aggression" gerade "geil" finden; da gibt es die Schüler-Lehrer-Eltern-Verträge, in denen sich alle zum Gewaltverzicht verpflichten, dabei aber zugleich einen hübschen Sanktionskatalog beschließen; da gibt es das Programm "Sport gegen Gewalt", mit dem der Bock zum Gärtner gemacht wird; es gibt die Mediation, die gleich davon ausgeht, dass es eigentlich keinen Grund für irgendeine Gewalttat gibt; die Werteerziehung gehört dazu, die Moral predigt und sie für eine Grundkonstante der menschlichen Natur hält, ohne sich darüber Klarheit zu verschaffen, dass Moral immer nur das ins Ethische transponierte (Staats-)Recht darstellt; der Täter-Opfer-Ausgleich will etwas ausgleichen, wo nichts auszugleichen ist; die Konfrontationsmethode möchte ausgerechnet hartgesottene "Wiederholungstäter", die übrigens immer den Märtyrerübergang parat haben, mit dem Verweis auf die Folgen ihres Tuns weich klopfen, so als wüssten oder wollten sie diese Folgen eigentlich nicht; die Erziehung zur Frustrationstoleranz will das Aushalten von Frust einüben, weil der Grund des Frusts bestehen bleiben soll usw. Sie alle und noch etliche Konzepte mehr sind entweder sowieso kontraproduktiv oder beziehen ihre "Überzeugungskraft" letztlich doch weniger aus sich selbst als vielmehr aus der immer im Hintergrund stehenden, weil nie aufgehobenen Strafdrohung.

5.Fazit: Gewaltpräventionsmaßnahmen der genannten Art stellen also insofern ein falsches Anliegen dar, als sie bei den Gewalttätern allein Gewalt unterbinden wollen, ohne deren Ursachen in den Blick zu bekommen bzw. ohne sie auch nur ergründen zu wollen. Es geht ihnen nur um die Bekämpfung der rohen Form der Austragung ihrer - in der Regel - sehr ärgerlichen Anliegen, ohne diese jedoch selbst zum Gegenstand näherer Betrachtung zu machen. Dabei liegt allein in diesen Anliegen der Übergang zu gewalttätigen Übergriffen begründet.

Und da nun die Bürger in einer Gesellschaft leben, in der sie einerseits tagtäglich ebenso mit dem Gewaltverbot konfrontiert, wie zugleich von der Tauglichkeit und Legitimität des Gewalteinsatzes "überzeugt" werden; und in der es andererseits zum festen Bestandteil des Zurechtkommens der Bürger in allen Konkurrenzveranstaltungen gehört, auf sich selbst als ehrenwerten Nabel der Welt und auf die eigene Heimat deswegen nichts kommen zulassen, weil bzw. sofern sie ihnen übel mitspielt, mithin permanent die Anlässe für "Frustration" geschaffen werden; wenn es den Menschen von Kindesbeinen an beigebracht wird: "Sage ja zu Dir!", was ja nichts anderes heißt, als dass sie auch dann an sich als anständige und ehrenwerte Person glauben sollen, wenn die Gesellschaft längst auf ziemlich unanständige Weise den Misserfolg ihrer Lebensplanung festgeschrieben hat, dann darf es nicht verwundern, dass immer wieder zur Überraschung der Umwelt "ganz normale Menschen" ausrasten, die das Missverhältnis zwischen dem idealisierten und gänzlich psychologisierten Selbstbefund, den sie von sich selbst haben, und ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Lage weder einfach so aushalten ("Frustrationstoleranz") noch gegen sich wenden ("Depression" etc.), sondern es offensiv gegen die Gesellschaft wenden, um ihr - immer notwendigerweise ohnmächtige - Beweise des Gegenteils zu liefern.

Dies geschieht dann so wie in Erfurt oder Littleton, das geschieht in Straßenschlachten mit gegnerischen Fans oder der Polizei und das geschieht auch in den Übergriffen der Skins auf Ausländer. In all diesen Fällen - und das ist das Bindeglied zwischen den ansonsten disparaten Abteilungen von "Jugendgewalt" - haben sie den gesellschaftlich produzierten Misserfolg zum Angriff auf ihre Ehre radikalisiert: Da ist der Schüler Robert S. in seiner Ehre getroffen, weil er sich als Person längst als Teil der gesellschaftlichen Elite wähnte; da sieht sich der Fan bei seiner Ehre als Vereins-Anhänger gepackt, der die Niederlagen seines Vereins nicht aushält, weil er ihm längst das Recht auf Sieg attestiert hat, und da weiß sich der Skin oder Neonazi in seiner Ehre als Deutscher angegriffen, wenn er auf Ausländer stößt.(20(

Folglich ist ein 6.Fazit fällig: Richtige Gewaltprävention kann es in einer solchen Gesellschaft nicht geben - und dieser Schlussfolgerung aus den genannten Überlegungen muss man sich einfach einmal stellen.

All das heißt nun nicht, dass man nichts unternehmen kann. Aus der vorgelegten Argumentation folgt schon etwas. Warum versucht man es nicht einmal mit der Absage an alle Theorien, Konzepte und Methoden, die immer nur das friedliche und wohlanständige Zurechtkommen mit solchen Verhältnissen propagieren, die es ihren Bürgern gegenüber an eben dieser Friedfertigkeit und Wohlanständigkeit fehlen lassen? Und warum teilt man Kindern und Jugendlichen nicht zur Abwechslung einmal die Wahrheit über die hiesige Gesellschaft mit, erklärt ihnen den Grund staatlicher Gewaltausübung, klärt sie auf über das Prinzip der Konkurrenz, über den Unfug des erzwungenen und freiwilligen Vergleichens, über die Lüge, dass jedermann hierzulande seines Glückes Schmied sei, über die Unwahrheit der Versager-Logik und über die Unsitte des Selbstbewusstseinskults und Anerkennungswahns? Das hilft zwar nicht beim Zurechtkommen, aber klärt wenigstens darüber auf, warum hierzulande ständig enorme Anstrengungen unternommen werden müssen, nur um irgendwie mit den jedermann vorgesetzten Verhältnissen zurecht zu kommen. (21) Und dass ist nicht nichts, sondern angesichts der dargelegten Umstände nicht einmal wenig!

Fußnoten

1 Zwecks weiterer Auseinandersetzung bin ich zu erreichen über: huisken@t-online.de und www.fhuisken.de

2 Wo in diesen Theorien von Gründen die Rede ist, da werden sie nicht selten ebenfalls als solche verstanden, die sich sozusagen hinter dem Rücken des bewusst Handelnden durchsetzen.

3 H.Wehr, www.ph-heidelberg.de/org/phb/gewpraev.htm

4 D.Olweus, Gewalt in der Schule, Bern 1997

5 Siehe dazu die Anmerkungen am Schluss des Textes.

6 Diese Benennung von Alternativen darf nicht als Liste konstruktiver Gegenvorschläge verstanden werden. Auf die noch nicht erwähnte vierte "Variante" komme ich später zu sprechen.

7 Was es mit dem Verhältnis von Recht und Gewalt auf sich hat, lässt sich zur Zeit an den Plünderungen im Irak studieren. Per Gewalt eignen sich Iraker fremdes Eigentum an. Das Urteil über dieses Plünderungswesen heißt: Es herrsche dort ein rechtloser Zustand; was jedoch die Sache nicht ganz trifft. Das Recht, das das Staats- oder Privateigentum schützt, das gibt es weiterhin im Irak. Und die Bürger wissen auch sehr gut, dass sie lieber ihr Gesicht verhüllen, wenn sie bei Plünderungen gefilmt werden. Es fehlt etwas ganz anderes: Es fehlt an der zum Recht dazugehörigen Gewalt, es durchzusetzen. Es herrscht also kein rechtloser Zustand, sondern ein Zustand, in dem sich nach dem Sturz Saddam Husseins noch keine neue Gewalt als die das Leben der Bürger beherrschende und das Eigentum schützende Gewalt etabliert hat.

8.Warum die Staatsmacht sich heute so aufstellt und per Gewaltherrschaft dafür sorgt, dass Bürger gar nicht erst auf die Idee kommen, ihre Interessen anders zu verfolgen, als sie bei Parteien abzugeben, die das Wohl der Nation im Auge haben, wird schon etwas mit dem höchst merkwürdig verteilten Nutzen zu tun haben, mit dem die Bürger in diesem "System" gesegnet sind. Dass die Mehrheit der "braven Leute" ein Leben lang in fremden Diensten Geld verdienen muss, ist schon eine Härte; dass dieses Angebot billiger Dienstleistung heute von vielen gar nicht verlangt wird, macht das Leben auch nicht gerade einfacher, da ohne Arbeit bekanntlich kein Einkommen fließt.

9 Es gab einmal Zeiten, in denen das anders aussah und in denen eine ganze Klasse sich nicht so ohne weiteres "entwaffnen" ließ, wie das die wehrhafte Demokratie nach 1945 fertig gebracht hat.

10 Und genau so ist übrigens das Verhältnis zwischen Moral und Gewalt beschaffen, nicht etwa umgekehrt.

11 Dass dieser real existierende Zirkel - siegreiche Gewalt setzt das Staatsinteresse als Recht, das dann per Gewalt beglaubigt wird - nie so erscheint, liegt u.a. daran, dass viele Bürger einfach von dem Irrglauben nicht lassen wollen, dass am Anfang jedes staatlichen Handelns die hohen Werte stünden, die Recht begründen, welches gelegentlich ohne Gewalt nicht auskommt.

12 Die "Einsicht" in diesen Zusammenhang ist es denn auch, die die meisten Bürger, die schon mal anders wollen als sie dürfen, davon abhält, das Recht in die eigenen Hände zu nehmen. Sie wissen, dass hierzulande der Vorteil eines gewaltsam durchgesetzten Interesses allemal nicht den Nachteil staatlicher Verfolgung aufwiegt.

13 Das reicht von der Benutzung der Gossensprache über demonstrativen Ungehorsam bis hin zum Angeben mit Stehlen, Modeklamotten oder ausgedehntem Geschlechtsleben.

14 Vgl. etwa W. Heitmeyer, in: Zeitdossier "Dresche von Herzen", Nr.10, S.15

15 Da gibt es den Manager oder Börsenspekulanten, der sich die Kugel gibt, weil auch er mit dem Stigma des Misserfolgs meint nicht mehr leben zu können.

16 Was sind denn das für Anliegen, die da verfolgt werden? Ich bin der Größte beim Bierschlucken; meiner ist der Größte; ich bin die Größte im "Männervernaschen"; ich bin die Erste, die nach neuster Mode gekleidet ist ....?

17 Vgl. 3b. Hooligans

18 Warum die Übergänge zwischen Skins und Hooligans fließend sind, müsste gleich klar werden.

19 Dass ihre Gewalttaten sich immer noch vergleichsweise harmlos ausnehmen im Vergleich zu deutscher Abschiebungs- und Grenzsicherungspraxis relativiert die Kritik an Skins nicht, soll jedoch schon die Frage aufwerfen, warum die Glatzen öffentliche Empörung auslösen, die Abschiebungslager dagegen in derselben Öffentlichkeit als leider notwendige Maßnahme zu unser aller Schutz gelten. (s.dazu auch: F.Huisken: Brandstifter als Feuerwehr: Die Rechtsextremismuskampagne, HH 2001)

20 Diese Ehrfragen machen vor keiner gesellschaftlichen "Charaktermaske" halt: Da sieht sich ein türkische Familienvater bei seiner Vaterehre gepackt, wenn die Tochter den "falschen", nämlich deutschen Freund anschleppt; umgekehrt geht es schon mal einem deutschen Vater gegen die deutsche Vaterehre, wenn der Sohn unbedingt eine gebürtige Türkin heiraten will; da wissen sich deutsche Arbeiter schwer in ihrer Arbeiterehre gekränkt, wenn nicht wenigstens ihre Leistung für Deutschland gewürdigt wird, wo ihnen schon das Einkommen zusammengestrichen wird usw.

21 Damit ist denn auch die 4. Alternative im Umgang mit Gewalt , neben dem Versuch von Überzeugungsarbeit, Kompromiss und Verzicht angesprochen. Sie besteht in der zuende gedachten Kritik der Gewalt: Was folgt denn aus der Kritik? Doch wohl nichts anderes als sich einmal die Frage vorzulegen und konsequent zu beantworten, woran es denn liegt, dass diese Gesellschaft dauerhaft Gründe für Gewaltausübung von Privatleuten und vor allem von Staatseinrichtungen hervorbringt.

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